Frage & Antwort, Teil 10: Meine Meinung zum Thannhauser Modell

Ich lese gerade, dass du von Deutschkurs für Asylbewerber – Thannhauser Modell abrätst. Mir erschien dies bisher immer als ein Deutschkurs, der von Praktikern für Praktiker erstellt wurde.

Welche Erfahrungen hast du damit gesammelt? In welcher Weise sind die Angebote der Verlage besser als dieses Angebot? Ich freue mich von deinen Erfahrungen zu hören :-)

Antwort:

Hallo Florian,

das Thannhauser Modell gibt es schon seit Frühjahr 2015. Zu diesem Zeitpunkt gab es auf dem Markt keine Unterrichtsmaterialien speziell für Flüchtlinge. Generell ist der Markt für DaF/DaZ-Lehrwerke natürlich sehr groß und es gibt ja auch diverse etablierte Reihen, die seit Jahren in Integrationskursen eingesetzt werden. (Wer sich dafür interessiert, kann sich mal die Liste der vom BAMF für Integrationskurse zugelassene Lehrwerke ansehen.)

Diese Bücher eigenen sich aber nicht unbedingt zu 100% für Flüchtlinge. Das fängt bei den Themen an (z.B. ist es unangenehm, in einer Lektion über die eigene Wohnung zu sprechen, wenn alle TN in einer Turnhalle auf Feldbetten schlafen…) und hört bei der Handreichung für die Lehrkraft auf (studierte DaF-/DaZ-Lehrkraft vs. Ehrenamtlicher ohne pädagogisch-didaktischen Hintergrund).

Ich habe vollsten Respekt vor den Menschen aus Thannhausen, die dieses Workbook entwickelt und zur Verfügung gestellt haben. Allerdings ist nicht jeder ehemalige Realschullehrer gleich auch Experte für DaF/DaZ im Erwachsenenalter…

Das Thannhauser Modell wurde von verschiedenen großen Medien gepusht, weil es eben als praxisnah und „einfach zu handhaben“ galt. In dieser Stellungnahme von Susan Kaufmann wird das analysiert und wiederlegt:

„Das Material will „mit möglichst wenig Grammatik auskommen“ (ZDF-Beitrag) und ist doch voll von grammatischen Übungen. Im nebenstehenden Beispiel erscheinen Nominativ und Akkusativ (verschiedene Formen, verschiedene Funktionen) plötzlich – ohne Hinführung, Übung, Erklärung.“

Kaufmann: Ehrenamtliche Lehrkräfte sind keine Lehrwerksautoren 

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Aus didaktischer Perspektive ist das Thannhauser Modell alles andere als ausgereift und dadurch wird es auch Laien erschwert, damit zu arbeiten.

Abgesehen von der bloßen Sprachvermittlung kann man das Thannhauser Modell auf einer anderen Ebene kritisieren: Welches Deutschlandbild wird vermittelt? Warum wird nur Wortschatz für die Arbeit als Altenpfleger, Hausmeister und Gehilfe in der Hotellerie/Gastronomie angegeben? Warum ist mal wieder (typisch deutsch…) die Mülltrennung so wichtig, dass sie in dem Heft für die Erstorientierung (!) vermittelt wird und Platz für wichtigere Themen wegnimmt? Warum werden die Berufe gender-stereotyp dargestellt? (die Sekretärin, der Automechaniker) Warum werden die Religionen Christentum und Islam thematisiert, nicht aber Judentum, Atheismus etc.? (Mehr dazu im Essay „Der Graben gegenseitiger Unkenntnis“ auf perlentaucher.de vom 22.09.2015)

Mittlerweile haben diverse Verlage auf den Bedarf reagiert und eigene Hefte für den Ersteinstieg rausgebracht, die – sorry für meine deutlichen Worte – in vielerlei Hinsicht um Längen besser sind. Didaktisch, ästhetisch, mit Zusatzmaterialien (z.B. App, Hörtexte, zusätzliche Übungen als Download) und mit Hilfen für die Lehrkraft.

Das Thannhauser Modell ist (leider) noch immer präsent in den Medien, den Buchhandlungen und in vielen Helferkreisen. Für Laien ist es eben schwer, einzuschätzen, wie sich verschiedene Hefte unterscheiden und was „besser“ ist. („Besser“ ist natürlich immer relativ und hängt von der Gruppe ab!) Eine persönliche Vermutung von mir ist außerdem, dass das selbstvertriebene D.I.Y.-Buch einfach sympathischer rüberkommt als die professionell anmutende Neuerscheinung bekannter Verlagshäuser.

Ich persönlich empfehle das Thannhauser Modell auf jeden Fall nicht weiter. Damals war es vielleicht okay, aber mittlerweile gibt’s einfach viele gute Alternativen. (Die sogar günstiger in der Anschaffung sind…)

Lehrwerke für die sprachliche Erstorientierung (speziell für Flüchtlinge), jeweils 6-10€

  • Erste Hilfe Deutsch (Hueber)
  • Herzlich willkommen! (Cornelsen)
  • Komm rein! (Langenscheidt)
  • Bitte einsteigen! (Klett)
  • Basis (telc)

Vorkurse (ältere Lehrwerke, nicht speziell auf den Unterricht mit Flüchtlingen ausgerichtet) je 10-16€

  • Erste Schritte plus/ Erste Schritte plus Neu (Hueber)
  • Berliner Platz NEU Einstiegskurs (Klett)
  • Der Vorkurs (Klett)
  • Der Einstieg (Cornelsen)

Wer sich für die Thematik interessiert, sollte auf jeden Fall die oben verlinkte Stellungnahme von Susan Kaufmann lesen.

Wie gesagt, ich möchte weder die AutorInnen des Buches angreifen, noch Menschen, die es (gerne) in ihren Kursen benutzen. Da ich jetzt aber schon zum wiederholten Male nach meiner Meinung zum Thannhauser Modell gefragt wurde,  gibt es diese jetzt hier schriftlich.