Lernungewohnte Flüchtlinge im Deutschkurs

Dass die AsylbewerberInnen alles andere als eine homogene Gruppe sind, ist kein Geheimnis. Unter den Geflüchteten befinden sich nicht nur die vielzitierten Ärzte, Ingenieure und weitere Fachkräfte, sondern auch Menschen, die in ihrem Heimatland nur wenige Jahre oder gar nicht zur Schule gegangen sind und über wenig (institutionelle bzw. formale) Bildung verfügen.

Diese Voraussetzungen haben natürlich einen Einfluss auf den Lernprozess im Deutschkurs. Ich möchte an dieser Stelle das Begriffspaar „lerngewohnt“ und „lernungewohnt“ einführen. Beachtet bitte, dass dies nichts mit der Intelligenz, (Sprach-)Begabung oder Motivation zu tun hat. Nur weil jemand lernungewohnt ist, heißt dies nicht automatisch, dass er oder sie „dumm“ ist oder nicht Deutsch lernen kann! Die Lehrkraft steht jedoch vor der Aufgabe, den Unterricht gemäß den Bedürfnissen der lernungewohnten TeilnehmerInnen zu gestalten.

Ein Überblick über die Unterschiede zwischen lerngewohnten und lernungewohnten LernerInnen:
Lerngewohnte TeilnehmerInnen Lernungewohnte TeilnehmerInnen
Haben in ihrer Heimat für mehrere Jahre die Schule und ggf. eine Hochschule besucht Haben nicht oder nur unregelmäßig die Schule besucht
haben keine Probleme, in ihrer Muttersprache zu lesen und zu schreiben sind in ihrer Muttersprache nicht oder nicht vollständig alphabetisiert
haben eine Fremdsprache (idealerweise mit dem lateinischen Alphabet, z.B. Englisch oder Französisch) gelernt Haben noch keine Fremdsprache gelernt
verfügen über grammatisches und metasprachliches Wissen (z.B. was ein Verb ist) Verfügen nicht über metasprachliches Wissen
Kennen Lerntechniken und wissen, was für ein Lerntyp sie sind Kennen keine Lerntechniken
sind Unterrichtssituationen und können über mehrere Stunden hinweg zuhören und sich konzentrieren Haben evtl. Probleme damit, sich über einen längeren Zeitraum hinweg zu konzentrieren und zuzuhören
kennen verschiedene Aufgabenarten und Bearbeitungsmodi Haben Probleme, Aufgabenstellungen und Übungsformen zu verstehen; haben Probleme, zwischen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit zu unterscheiden
Können sicher mit Hilfsmitteln (z.B. versch. Stifte; Wörterbuch) umgehen Haben evtl. Probleme, über einen längeren Zeitraum mit der Hand zu schreiben; unsicher im Umgang mit Hilfsmitteln

Aus diesen Unterschieden ergeben sich einige Punkte, die im Unterricht beachtet werden sollten:

Zunächst einmal ist es sinnvoll, lerngewohnte und lernungewohnte TeilnehmerInnen in eigene Gruppen einzuteilen. Der Grund hierfür ist, dass es sehr schwierig ist, allen TeilnehmerInnen gerecht zu werden, wenn sie unterschiedlich schnell Fortschritte machen. Die einen langweilen sich, wenn etwas immer wieder wiederholt wird; die anderen sind überfordert, wenn die nächste Lektion begonnen wird. [Wer noch nicht alphabetisiert ist, braucht natürlich einen Alphabetisierungskurs!]

Ich gehe also jetzt davon aus, dass die Lernwilligen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt wurden.  Die folgenden Tipps beziehen sich auf den Unterricht in einer Gruppe mit Lernungewohnten:

Lehrwerk

Es gibt viele verschiedene Deutsch-Lehrwerke auf dem Markt, die sich jedoch an unterschiedliche Zielgruppen wenden. Ein Buch für Teenager, die in ihrem Heimatland Deutsch als zweite oder dritte Fremdsprache in der Schule lernen, ist ganz anders aufgebaut als ein Buch für Manager, die berufsbezogenes Deutsch lernen wollen. Ein Buch für Menschen ohne Lernerfahrung ist viel kleinschrittiger („einfacher“) als ein Buch für Studierende und Akademiker.

Für die Arbeit mit lernungewohnten Flüchtlingen empfiehlt sich daher ein Vor- oder Einstiegskurs. Es gibt Lehrwerke, die sich speziell an lernungewohnte TeilnehmerInnen richten, zum Beispiel Erste Schritte (plus) (Hueber). Mit diesem Buch habe ich gearbeitet und empfand es als hilfreich. Weitere Vor- und Einstiegskurse habe ich unten aufgelistet.  Diese Lehrwerke sind weniger umfangreich als die in normalen Lehrwerken und die Progression ist langsamer. Es gibt mehr Bilder und Illustrationen sowie eine größere Schrift. Auf Metasprache wird so weit wie möglich verzichtet. Ihr Ziel ist, die TeilnehmerInnen an die Unterrichtssituation und das Lernen heranzuführen.

 Einige aktuell erhältliche Vorkurse: (Kein Anspruch auf Vollständigkeit)

  • Erste Schritte Plus (Hueber, ISBN 978-3193519115)
  • Erste Schritte (Hueber, ISBN 978-3190016860)
  • Berliner Platz NEU Einstiegskurs (Klett, ISBN 978-3-12-606309-8)
  • Der Vorkurs (Klett, ISBN 978-3-12-675789-8)
  • Der Einstieg (Cornelsen, ISBN 978-3-464-20840-3)

 

Übungs- und Sozialformen

In vielen Ländern gibt es fast ausschließlich Frontalunterricht. Dieser Unterrichtsstil ist sehr lehrerzentriert; die SchülerInnen sollen zuhören, still sein und mitschreiben. Moderner Unterricht ist kommunikativer und bezieht die SchülerInnen mehr ein. Es ist deshalb für viele eine Umgewöhnung, selbst aktiv zu sein und in verschiedenen Sozialformen zu arbeiten (z.B. stille Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit; Präsentation von Ergebnissen vor der Klasse).

Auch verschiedene Aufgaben- und Übungsformen (z.B. Einsetzübungen, Spiele etc) sind nicht bekannt und müssen erst „gelernt“ werden. Für uns Deutsche erscheinen solche Aufgaben total einfach und „selbsterklärend“ – deshalb ist es wichtig, uns zu vergegenwärtigen, dass für viele Menschen diese Art von Unterricht komplett fremd ist und sie zunächst überfordert sind.

Ein Beispiel: Was sollen die TeilnehmerInnen in dieser fiktiven Übung machen? (Beachtet auch den Beispielsatz)

beispiel_uebung

Die Teilnehmer müssen hier mehrere Teilaufgaben bewältigen: Sie müssen die Wörter verstehen und in eine sinnvolle Reihenfolge bringen, um einen Satz zu bilden. Das Verb „kaufen“ muss korrekt konjugiert werden (Tina -> sie / 3. Pers. Singular). Sie müssen die Wörter aufschreiben und dabei auf die korrekte Groß- und Kleinschreibung achten.

Diese Teilschritte können wir anhand des Beispiels „ablesen“ und schnell auf die zweite Aufgabe übertragen: Ich kaufe drei Äpfel. Einfach, oder?

Nein! Für Lernungewohnte ist diese Aufgabe sehr schwierig und komplex. Es wird zu viel auf einmal gefordert. Es wäre deutlich besser, wenn zunächst einmal nur die Bestandteile in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssten.

[Um dieses Aufgabenprinzip deutlich zu erklären, bereitet man am besten buntes Papier oder Pappe vor, schreibt die Bestandteile gut sichtbar darauf (mit korrekter Groß- und Kleinschreibung!) und verteilt sie gut durchmischt an der Tafel oder auf der Tischplatte. So kann man gut visualisieren, dass es nun die Aufgabe der TeilnehmerInnen ist, die Wörter in die richtige Reihenfolge zu bringen.]

 

Körperliche/motorische Gewöhnung

Für KursteilnehmerInnen ohne Schulerfahrung ist es oft (so lustig es zunächst klingt) schwierig, 60 Minuten am Stück „still zu sitzen“. Sie können auch Schwierigkeiten haben, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren und mitzuschreiben (Schmerzen in der Hand!). Die Unterrichtseinheiten sollten daher durch regelmäßige Pausen unterbrochen werden, in denen die Leute ruhig ermutigt werden sollen, den Raum oder das Gebäude zu verlassen, frische Luft zu schnapp und einen Kaffee zu trinken (oder eine Zigarette zu rauchen…).

Gerade wenn das lateinische Alphabet erst vor kurzem erlernt wurde, ist es sowohl von der Konzentration als auch von der Motorik her anstrengend, zu schreiben. In diesem Fall sollte darauf geachtet werden, dass die TeilnehmerInnen einen Stift  benutzen, mit dem sie flüssig schreiben können (z.B. Tintenroller) und den sie gut halten können.

stifte

Kenntnisse über Sprache und Grammatik

Lernungewohnte beherrschen ihre Muttersprache nur intuitiv. Sie verfügen nicht über das metasprachliche Wissen, das wir in der Schule erwerben, wenn wir eine Fremdsprache lernen und Grammatikunterricht in unserer eigenen Sprache haben (= der Deutschunterricht in der Sek. I).

Mit der Regel „Das Verb steht im Deutschen an der zweiten Stelle“ kann man nunmal nichts anfangen, wenn man nicht weiß, was ein Verb ist.

Ich merke in meinem Unterricht den deutlichen Unterschied zwischen denjenigen, die Deutsch als erste Fremdsprache lernen, und denjenigen, die bereits Englisch sprechen. Zum einen lassen sich viele deutsche Strukturen aus dem Englischen herleiten und zum anderen ist durch den Fremdsprachenunterricht das Sprachbewusstsein der TeilnehmerInnen gefördert worden, so dass ihnen das Erlernen weiterer Sprachen leichter fällt.

 

Lernen lernen

Menschen verfügen beim Lernen über verschiedene Begabungen. Die einen lernen durch wiederholtes Abschreiben am besten, die anderen durchs Hören, und wieder andere arbeiten mit Farben und Visualisierungen. Im Laufe unserer Schul- und Unikarriere haben wir verschiedene Lerntechniken ausprobiert und in der Regel herausgefunden, wie wir uns am besten Dinge merken können.

Lernungewohnte müssen ihren Lerntyp und ihre favorisierten Lerntechniken erst noch kennenlernen und ausprobieren. Es liegt an der Lehrkraft, verschiedene Techniken vorzustellen. Man sollte auf keinen Fall davon ausgehen, dass man einfach die Hausaufgabe „Lernt die Vokabeln der Lektion 3“ aufgeben kann! Vielmehr können verschiedene Techniken (zum Beispiel die Karteikastenmethode oder Mind Maps) im Unterricht thematisiert werden, so dass die Lernenden hoffentlich selbst merken, mit welcher Methode sie gut klarkommen.

karteikarten

Karteikarten: Manche finden sie nervig, andere schwören auf diese Methode!

Einstellung zum Lernen

Die bisherigen Lern-Erfahrungen in der Schule waren möglicherweise nicht unbedingt positiv (Druck, strenge Lehrer, schlechte Klassenatmosphäre)  – umso wichtiger ist es, dass im Deutschkurse eine positive Atmosphäre herrscht.

Dazu gehört:

  • ein respektvoller Umgang der TeilnehmerInnen untereinander (gegenseitig helfen; nicht auslachen, wenn jemand einen Fehler gemacht hat; …)
  • der nachsichtige Umgang mit Fehlern und Rückschritten. Fehler sind normaler Bestandteil eines Lernprozesses und sollten nicht bestraft werden. Botschaft: Es ist nicht schlimm, dass du einen Fehler gemacht hast. Wir arbeiten daran. Nächstes Mal machst du es besser.
  • Förderung der individuellen Motivation
  • Berücksichtigung der Interessen der KursteilnehmerInnen bei der Gestaltung der Kursinhalte
  • Lob und Belohnung
  • Lernen als individuellen Prozess zu begreifen, mit eigenen Präferenzen, Talenten und Schwächen
  • zu zeigen: Lernen kann auch spielerisch erfolgen

Das große Ziel:  Lernen soll Spaß machen!

 

Progression & Inhalte

Lehrkräfte in Kursen mit lernungewohnten TeilnehmerInnen sollten sich darauf einstellen, dass nur kleine Fortschritte gemacht werden. Wenn die Übungen im Lehrwerk oder Arbeitsbuch nicht ausreichen und die Lehrkraft das Gefühl hat, dass zu einem bestimmten Thema mehr Übungen gebraucht werden, bis es „sitzt“ kann auf andere Lehrwerke des gleichen Niveaus oder Materialien aus dem Internet zurückgegriffen werden. Gerade bei den Grundlagen sollte man nicht hetzen und den TeilnehmerInnen die Zeit lassen, die sie brauchen.

Idealerweise greifen die Kursinhalte Themen auf, die die Flüchtlinge in ihrem Alltag betreffen. Dazu gehören Handlungen das Alltags (z.B. einkaufen) oder auch das Ausfüllen von Formularen. Wer merkt, dass er vom Sprachkurs unmittelbar profitiert, arbeitet umso besser mit.

 

Fazit

Wer mit lernungewohnten Flüchtlingen arbeitet, muss Geduld mitbringen und sich vor allem darüber im Klaren sein, dass wir in der Schule nicht nur Sachkenntnisse, sondern auch das Lernen an sich gelernt haben. Die Vermittlung von Lerntechniken, verschiedenen Übungs- und Sozialformen ist also ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts. Mit Motivation und einer positiven Klassenatmosphäre können auch lernungewohnte Flüchtlinge tolle Fortschritte schaffen!

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