- Jörg Roche (Hrsg.)
- Deutschunterricht mit Flüchtlingen – Grundlagen und Konzepte
- narr Studienbücher, Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
- Unter Mitarbeit von Elisabetta Terrasi-Haufe, Martina Liedke, Mohcine Ait Ramdan und Mirjana Šimić
- ISBN: 78-3-8233-8055-9
- 231 Seiten
- 24,95€ beim Verlag, bei Amazon oder im Buchhandel
Konzept und Zielgruppe des Buches
„Deutschunterricht mit Flüchtlingen – Grundlagen und Konzepte“ ist Ende September 2016 in der Reihe Narr Studienbücher erschienen.
„Dieses Buch gibt allen das nötige Grundlagenwissen an die Hand, die sich für die Vermittlung der deutschen Sprache an Flüchtlinge und Asylbewerber interessieren.“ (S. 1)
„Dieses Buch will dabei helfen, einfache, natürliche Verfahren des Erwerbs von Sprachen mit einer Zielgruppe umzusetzen, die oft wenig Kontakt mit Fremdsprachen hatte und oft unter ungünstigen Umfeldbedingungen für den Sprachen- und Kulturenerwerb leidet.“ (S. 2)
Der Herausgeber Jörg Roche hat eine Professur am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) inne und forscht hauptsächlich zu Theorie und Medien der Sprach- und Kulturvermittlung. Darüber hinaus ist er Wissenschaftlicher Leiter der Deutsch-Uni Online und leitet ein Fernstudienangebot in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut.
Aufbau
Deutschunterricht mit Flüchtlingen besteht aus fünf Hauptkapiteln:
- Grundlagen zum Sprachenerwerb
- Grundlagenwissen über den Lerngegenstand deutsche Sprache
- Grundlagenwissen zum Deutschunterricht mit Flüchtlingen
- Grundwissen zu Flucht und Asyl
- Ressourcen für den integrativen Sprachunterricht
Die fünf Kapitel sind jeweils in zahlreiche Unterkapitel untergliedert. Das komplette Inhaltsverzeichnis kann in der Datenbank der Deutschen Nationalbibliothek eingesehen werden.
Die ersten drei Kapitel basieren auf vorherigen Publikation des Herausgebers Jörg Roche:
- Roche (2013): Fremdsprachenerwerb – Fremdsprachendidaktik. Tübingen/Basel. Francke/UTB
- Liedke (2015): Sprache. Grundlagenbaustein 1. In: J. Roche (Hrsg.) Grundlagen und Konzepte des DaF-Unterrichts. Goethe-Institut
Themen
Im ersten Kapitel geht es um Spracherwerb allgemein. Es werden verschiedene Hypothesen zum Spracherwerb sowie die verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit vorgestellt. Das Unterkapitel Sprachenlernen und Kognition nimmt viel Raum ein. Darüber hinaus spielen in diesem Kapitel die Lernervariablen eine Rolle.
Das zweite Kapitel widmet sich der deutschen Sprache hinsichtlich ihrer Stellung, ihrer Struktur, der Unterscheidung Mündlichkeit <-> Schriftlichkeit sowie der Fachsprache. Insbesondere das Unterkapitel 2.2 Strukturelle Merkmale des Deutschen erscheint mir hilfreich, da es in einem Rundumschlag einen Überblick über Phonologie, Morphologie und Syntax des Deutschen gibt.
Das dritte Kapitel behandelt die Planung und Durchführung von Unterricht (mit Flüchtlingen): Lernziele, Unterrichtsphasen, Medieneinsatz, Prüfungen etc. werden angerissen. Auch die Beziehung zwischen Kultur und Sprache wird nicht außer Acht gelassen.
Das weniger als 20 Seiten kurze Kapitel Nummer vier vermittelt Grundwissen zu Flucht und Asyl, wobei im Kontext des Deutschlernens insbesondere die Abschnitte über Sprachkurs- und Bildungsangebote relevant sind.
Das letzte Kapitel stellt Ressourcen vor und ist dabei in vier Teile geteilt: die Vorstellung von berufsintegrativen Modellen; Informationen zur Alphabetisierung; Informationen über (Schulungs-)Materialien für Ehrenamtliche sowie eine Link- und Literaturliste mit Unterrichtsmaterialien, Apps und Weiterbildungsangeboten.
Gestaltung und Verständlichkeit
Deutschunterricht mit Flüchtlingen enthält verschiedene Tabellen, Schaubilder und grafische Darstellungen. Außerdem werden Schlüsselwörter durch Fettdruck hervorgehoben, was das globale Lesen oder die Suche nach bestimmten Informationen erleichtert. Ein Glossar gibt es leider nicht.
Insbesondere in den ersten Kapiteln des Buches wird eine akademische, verdichtete Sprache verwendet. Für Akademiker und Studierende ist sie sicherlich verständlich; FlüchtlingshelferInnen, die diese Art von Text nicht gewohnt sind, könnten sich jedoch überfordert oder abgeschreckt fühlen.
Nach den ersten vier Kapitel werden jeweils einige (3-10) Aufgaben gestellt, die die Leserin/der Leser beantworten kann. Eine Musterlösung wird jedoch nicht angegeben.
Beurteilung
Relevanz für die Praxis?
Ich sehe das Buch weniger als eine Anleitung zum Unterrichten, sondern eher als eine verdichtete Sammlung von relevanten Themen, die kurz angeschnitten werden. Als Leser/in bekommt man so einen Überblick. Wenn man zum Beispiel im Studium bereits die Phasen einer Unterrichtseinheit kennen gelernt hat, ist die Darstellung in Deutschunterricht mit Flüchtlingen (S. 140-141) eine gute Zusammenfassung. Wer jedoch noch nie etwas davon gehört hat, wird an dieser Stelle definitiv Zusatzmaterial heranziehen müssen, um die Phasen verstehen und anwenden zu können.
Ich halte das Buch daher gut geeignet für Studierende des Fachs oder QuereinsteigerInnen, die gerade eine Fortbildung in DaF/DaZ machen.
Die Auffrischung unseres Wissens über die sprachlichen Strukturen des Deutschen oder deren Bewusstmachung (Kap. 2.2 Strukturelle Merkmale des Deutschen) ist für viele (v.a. Ehrenamtliche/ Quereinsteiger) Lehrkräfte sicher sehr hilfreich.
Wer mitten in der Praxis steckt und konkrete Praxistipps oder Unterrichtsanleitungen sucht, wird von diesem Buch jedoch enttäuscht sein. Die wenigen Reflexions- und Übungsaufgaben am Ende der Kapitel 1-4 finde ich prinzipiell gut – eine Interaktivität bzw. einen Kurs-Charakter wie in den Reihen Deutsch lehren lernen oder Fortbildung für Kursleitende DaZ erreicht das vorliegende Buch Deutschunterricht mit Flüchtlingen jedoch nicht.
Offene Fragen
In Bezug auf die Auswahl und Anordnung der Inhalte in diesem Buch hätte ich – ausgehend vom Titel – etwas anderes erwartet.
Zum einen: Warum befindet sich das Kapitel über Alphabetisierung im letzten Buchteil, bei den Ressourcen? Warum wurde die Alphabetisierung nicht im Rahmen der Grundlagen behandelt? Auch ein Unterkapitel zum Zweitschrifterwerb oder eine kleine Sprachtypologie der verbreitetsten Herkunftssprachen wären meiner Meinung nach sehr hilfreich gewesen.
Zum anderen ist das Kapitel Grundlagenwissen zum Deutschunterricht mit Flüchtlingen meiner Meinung nach nicht spezifisch genug. Der Großteil des dritten Kapitels gilt für DaF/DaZ-Arbeit allgemein und bezieht sich nur punktuell (z.B. Kapitel 3.7 (S. 158ff.)) auf Flüchtlinge.
Hier fehlen wichtige Aspekte zum Umgang mit dieser Zielgruppe:
- Inwieweit beeinflusst die Fluchtgeschichte das Lernen (Stichwort Trauma)?
- Wie kann man eine positive Lernumgebung unter erschwerten Bedingungen (z.B. schlechte Ausstattung von Unterrichtsräumen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Wohnheimen; Fluktuation in Teilnehmergruppen) schaffen?
- Welche Besonderheiten sind im Unterricht mit Geflüchteten zu beachten?
Im Vorwort heißt es: „Im Mittelpunkt des Buches steht die Relevanz der Grundlagen für die Praxis.“ (S. 2) Welche neuronalen Prozesse im Hirn stattfinden oder welche Merkmale die syntaktische Struktur von Fachsprache hat, ist für die Praxis jedoch nicht relevant. Ich hätte mir gewünscht, dass das Buch einige Grundlagen aus den ersten beiden Kapiteln weniger tief behandelt, damit mehr Platz zur Beantwortung der oben genannten Fragen bleibt.
Dass Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten, über grundlegendes Wissen zum Asylverfahren verfügen, halte ich für gut und richtig. Dennoch hat es mich beim ersten Lesen des Inhaltsverzeichnisses erstaunt, dass diesem Thema innerhalb eines Buches über Deutschunterricht (!) ein ganzes Kapitel gewidmet wird. Da sich die Gesetze und Regelungen ja in den nächsten Monaten sicher wieder ändern werden, verliert das Buch zwangsläufig hier zwangsläufig bald an Aktualität. Dasselbe gilt für die Material- und Linkliste (S. 210-214). Hier empfände ich es als tollen Service des Verlags, wenn diese Linkliste auch digital zur Verfügung gestellt und regelmäßig gepflegt werden würde.
Auch wenn meine Erwartungen nicht vollständig erfüllt wurden, möchte ich nicht sagen, dass Deutschunterricht mit Flüchtlingen ein schlechtes Buch ist. Im Gegenteil, ich habe auch im Rahmen meiner Online-Vorlesungen daraus zitiert und es mit in die Literaturlisten aufgenommen.
Allerdings lässt mich das Buch ratlos mit der Frage zurück, an wen es sich genau richtet. Erfahrene DaF-LehrerInnen benötigen das ganze Grundwissen nicht; für komplette Neueinsteiger sind die Theorien, die linguistischen Fachbegriffe und die akademische Schreibweise vermutlich abschreckend. Für einen Praxisleitfaden enthält das vorliegende Buch nicht genug konkrete Beispiele.
Ich würde es daher – wie bereits gesagt – für Menschen empfehlen, die aktuell DaF/DaZ studieren, eine Fortbildung besuchen oder sich als Quereinsteiger ernsthaft in die Materie einarbeiten wollen.